Ganzheitlich und nachhaltig für die musikalische Bildung: Das Education-Programm des Klavier-Festivals Ruhr

Sep 11, 2024 | Kultur

Auch dieses Jahr unterstützten Kinder und Jugendliche im Rahmen des Education-Programm die Konzerte des Klavier-Festivals Ruhr – wie hier in der Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord I Bild: Markus Feger

Aus dem Klavier-Festival Ruhr ist das Education-Programm nicht mehr wegzudenken. Mit seinen vielfältigen Angeboten begeistert es Kinder und Jugendliche für das Klavier, fördert sie ganzheitlich und unterstützt sie dabei, sich aktiv und kreativ mit Musik zu beschäftigen. Seit 2006 gibt es das Programm nun schon, das nicht nur während der Festival-Saison, sondern ganzjährig und nachhaltig wirkt. Über seine Entstehung, Entwicklungen in dieser Zeit und Anknüpfungspunkte zum Leitprojekt Urbane Zukunft Ruhr haben wir mit Prof. Dr. Tobias Bleek, Leiter des Education-Programms, gesprochen.

Herr Bleek, über die Jahre ist das Education-Programm zu einem elementaren Bestandteil des Klavier-Festival Ruhr geworden. Sie leiten das Programm seit 2007. Nehmen Sie uns noch einmal mit in die Entstehungsgeschichte.

Entstanden ist das Programm auf Initiative unseres langjährigen Intendanten, Prof. Franz Xaver Ohnesorg. Er war begeistert von Ansätzen der kreativen Musikvermittlung, die er auf seinen vorherigen beruflichen Stationen in New York und bei den Berliner Philharmonikern kennengelernt hatte. Als er die Gesamtverantwortung für das Klavier-Festival Ruhr übernahm, war es ihm ein Anliegen, jedes Jahr nicht nur ein hochkarätiges Festival auf die Beine zu stellen, sondern für die Region auch ein auf langfristige Wirkung ausgerichtetes Bildungsprogramm ins Leben zu rufen. Gemeinsam mit dem englischen Musikvermittler Richard McNicol habe ich 2007 mit der Arbeit begonnen. Zunächst ganz klein mit der Little Piano School, einem Projekt zur frühen musikalischen Bildung von Kim Monika Wright, sowie im schulischen Bereich mit kreativen Musikworkshops an Grundschulen. Eine dieser Schulen war die Grundschule Sandstraße in Duisburg-Marxloh, mit der wir bis heute zusammenarbeiten. 2008 haben wir dort mit 25 Kindern einer vierten Klasse und vier Workshops begonnen. Mittlerweile arbeiten wir in Marxloh mit allen 5 Schulen des Stadtteils und 4 Kindertagesstätten zusammen und erreichen jedes Jahr mehr als 800 Kinder und Jugendliche.

Sie haben Prof. Ohnesorg angesprochen, der im letzten Jahr viel zu früh von uns gegangen ist. Das Programm ist auch eng mit ihm verbunden.

Absolut. Er hat sich für das Thema musikalisch-kreative Bildung bereits zu einem Zeitpunkt eingesetzt, als es bei vielen anderen Häusern und Festivals noch nicht auf der Agenda stand. Zwei Aspekte waren ihm und uns dabei besonders wichtig: Zum einen sollte es in erster Linie nicht darum gehen, den pianistischen Nachwuchs zu fördern, sondern Kinder dabei zu unterstützten, ihre musikalischen und kreativen Fähigkeiten „ganzheitlich“ zu entwickeln. Zum anderen war es uns von Anfang an ein großes Anliegen, das Programm nachhaltig zu denken. Sowohl er als auch ich hatten in den Jahren davor Erfahrungen mit inspirierenden Vermittlungsprojekten gemacht, die in beeindruckenden Aufführungen mündeten, aber als Episoden angelegt waren. Wir haben uns deshalb gefragt: Was passiert mit den Kindern und Jugendlichen nach solchen Projekten? Wie schaffen wir es, ihnen nachhaltig etwas anzubieten und sie auf ihrem Weg musikalisch zu begleiten? Dieses Streben nach Nachhaltigkeit prägt unsere Arbeit, die wir seit diesem Jahr gemeinsam mit unserer neuen Intendantin Katrin Zagrosek weiterentwickeln, bis heute in entscheidender Weise.

Prof. Dr. Tobias Bleek, Leiter des Education-Programms vom Klavier-Festival Ruhr

Nehmen Sie uns einmal in die Entwicklung der letzten Jahre. Wie ist gelungen, diesen ganzheitlichen und vor allem nachhaltigen Grundgedanken des Programms mit Leben zu füllen?

Auf der einen Seite sind wir sehr kleinschrittig vorgegangen. Das garantiert, dass man sich nicht überfordert und man auch Fehler korrigieren kann. Wenn man sofort den großen Wurf machen möchte, besteht die Gefahr, dass man irgendwann zurückrudern muss. Man implementiert etwas und merkt nach einiger Zeit entweder, es funktioniert nicht wie gedacht oder, ich kann das langfristig nicht durchhalten, weil ich nicht die Finanzen oder die „Manpower“ dafür habe. Wir sind deswegen den umgekehrten Weg gegangen und haben unsere Projekte wie die Stadtteilarbeit in Marxloh nach einem „Bottom-up“-Prinzip entwickelt. Man braucht dafür zwar einen langen Atem und viel Geduld, kann aber von Jahr zu Jahr immer mehr Früchte ernten. So haben wir auf der Basis der Erfahrungen in Marxloh unsere Arbeit im Lauf der Zeit auf andere Stadtteile ausgedehnt. Ein Beispiel ist Bochum-Gerthe, wo wir seit 2018 jedes Jahr ein großes inklusives Projekt anbieten. Beteiligt sind Kinder und Jugendliche aus einer Grundschule, einer Förderschule mit dem Schwerpunkt „Geistige Entwicklung“, einer Gesamtschule und einem Gymnasium. In dieser Arbeit geht es nicht nur darum, sich aktiv mit Musik zu beschäftigen und gemeinsam eine Choreographie zu entwickeln, sondern auch die verschiedenen Schulen zusammenzubringen, den Austausch zwischen den unterschiedlichen Akteuren zu befördern und neue Formen der Vernetzung zu schaffen. Wir möchten einen Mehrwert für die Kinder und Jugendlichen erzeugen, der aber auch in der Schule aufgenommen wird. Deshalb war es ganz entscheidend, dass wir nicht mit fertigen Projekten in das System Schule gekommen sind, sondern uns mit den Schulleitungen und Lehrkräften an einen Tisch gesetzt haben, um gemeinsam Formate zu entwickeln, die sich in den Schulalltag integrieren lassen. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang unterschiedliche Formen des Teamteachings. Ein schönes Beispiel dafür ist der gemeinsame Musik- und Tanzunterricht, der seit mehr als 15 Jahren an der Grundschule Sandstraße praktiziert wird. Ein Musiklehrer der Schule und eine Tänzerin, die von uns finanziert wird, gestalten gemeinsam eine 90-minütige Unterrichtseinheit. Durch ihre unterschiedlichen Expertisen entsteht etwas Neues und gleichzeitig ist die Aktivität Bestandteil des Curriculums. An der weiterführenden Schule werden diese Angebote fortgeführt und so entsteht eine Vertrautheit, die Kindern dabei helfen kann, den Übergang von einem Schulsystem ins andere zu bewältigen.

Würden Sie sagen, darin liegt auch eine große Besonderheit dieses Programms?

Definitiv. Es gibt eben ganz viele Aspekte, die über eine traditionelle musikalische Bildung hinausgehen, z.B. überall dort, wo Prozesse der Schulentwicklung mitgedacht und befördert werden. Eines unserer zentralen Anliegen ist es ja, Kinder und Jugendliche nicht nur punktuell, sondern langfristig zu fördern. Deshalb spielt das Thema Übergang in unserer Arbeit eine so wichtige Rolle: von der Kita in die Grundschule oder von der Grundschule in die weiterführende Schule. Viele Kinder und Jugendliche begleiten wir schon über mehrere Jahre mit unseren Formaten. Ich glaube, das ist auch ein Stück weit das Markenzeichen und vielleicht auch das Geheimnis dieses Programms.

Das Klavier-Festival Ruhr ist in jedem Jahr ein temporäres Ereignis, doch das Thema Bildung ist mit dem Ende einer Festival-Saison ja nicht abgeschlossen. Wie integrieren Sie darin das Education-Programm?

Uns war von Anfang an klar, dass wir im Education-Programm ganzjährig arbeiten möchten, auch wenn das Festival als solches ein zeitlich begrenztes Ereignis ist. Bildung kann ja nicht nur temporär stattfinden. Trotz dieses Unterschieds sind das Festival und sein Education-Programm natürlich eng verklammert. So versuchen wir, wo sinnvoll und möglich, thematisch an Festivalschwerpunkte anzuknüpfen oder auch von uns aus Ideen zu formulieren, die im Festival aufgegriffen werden. 2023 haben wir beispielsweise das Schaffen des ungarisch-stämmigen Komponisten György Ligeti ins Zentrum unserer Arbeit gestellt. In verschiedenen Formaten haben sich mehr als 300 junge Menschen von der Grundschule bis zur Musikhochschule mit seiner komplexen Musik beschäftigt, Choreografien entwickelt, mit seinen musikalischen Ideen experimentiert und einige seiner Werke auch aufgeführt. Zugleich gab es im Festival neben den üblichen Education-Präsentationen Gesprächskonzerte und Klavierabende zu Ligetis Musik sowie eine Podiumsdiskussion. Wie wichtig es unserer neuen Intendantin Katrin Zagrosek ist, diesen Ansatz nicht nur fortzuführen, sondern die Education-Arbeit und das Festival sogar noch enger miteinander zu verklammern, konnte man in diesem Jahr schon beim Eröffnungskonzert erleben. So begann der Abend mit einem gemeinsamen Auftritt des Emmet Cohen Trios mit einer Klasse der Grundschule Sandstraße – ein ganz besonderes Erlebnis, nicht nur für die tanzenden Kinder, sondern auch für alle, die im Saal saßen.

Die vielfältigen Erfahrungen, die Sie vor allem auch in Duisburg-Marxloh in den Jahren gesammelt haben, übertragen Sie nun auch auf den Stadtteil Hochfeld in der gemeinsamen Arbeit mit Urbane Zukunft Ruhr.

Uns fasziniert das Leitprojekt Urbane Zukunft Ruhr des Initiativkreises Ruhr, weil es hier um den Versuch geht, einen essentiellen Beitrag zu einer nachhaltigen Stadtteilentwicklung zu leisten. Deshalb lag es auf der Hand, dass wir uns in diesem Projekt im Bereich der kulturellen Bildung engagieren. Und auch in diesem Fall werden wir wieder einen Weg der kleinen Schritte gehen, der aber sehr konkret ist. Das heißt, wir sind mittlerweile in drei Hochfelder Kindertagesstätten regelmäßig aktiv. Wir erreichen jede Woche über 100 Kinder, die gefördert werden. Meist in einer etwa 30-minütigen Einheit, integriert in den Kita-Alltag. Und auch dabei steht im Zentrum natürlich die Musik unter Einbezug des Klaviers. Aber es geht ebenso ganz stark auch um die Entwicklung von basalen Grundkompetenzen, also Sprache, Strukturverstehen, Konzentration, Arbeit in der Gruppe, Sozialverhalten. All diese Aspekte denken wir mit und das spielt natürlich gerade in solchen Stadtteilen eine große Rolle, weil dort viele Kinder mit schwierigen Ausgangsbedingungen in die Schule oder in den Kindergarten kommen und einfach auch eine Form von kontinuierlicher und auch qualitativ hochwertiger Förderung brauchen.

Was passiert aktuell speziell in Hochfeld?

Bereits im Herbst 2023 haben wir mit dem Mitmachkonzert Paulas Reisen über 1000 Kinder erreicht. Und ab diesem Frühjahr sind wir auch an der Grundschule Hochfelder Markt aktiv und betreuen erste Klassen. Dort haben wir einige Kinder wiedergetroffen, die wir bereits kennen, weil sie in unseren Gruppen in der Kita an der Wörthstraße oder Johanniterstraße waren. Also auch hier sind der Übergang und die nachhaltige Betreuung wieder ein ganz wesentlicher Bestandteil des Konzepts.

Und im Allgemeinen, auch im Hinblick auf Katrin Zagrosek als neue Intendantin des Klavier-Festivals: Was sind die nächsten Schritte im Rahmen des Education-Programms?

Wir sind sehr froh, dass Katrin Zagrosek die neue Intendantin des Klavier-Festivals Ruhr geworden ist, denn auch für sie spielt das Thema Education eine absolut zentrale Rolle. Wir setzen nach wie auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit. Und wir setzen darauf, unsere Arbeit insbesondere dort fortzuführen und weiterzuentwickeln, wo wir schon lange sind oder wo wir – wie in Hochfeld – erst kürzlich angefangen haben. Zugleich beschäftigt uns in den letzten Jahren immer mehr das Thema „Transfer“. Dahinter steht die Frage, wie wir unsere Erfahrungen und Expertise sowie Formate, die sich in der Praxis besonders bewährt haben, an Multiplikatoren weitergeben können. Denn so kann es uns vielleicht gelingen, die Wirkung unserer Arbeit weiter zu erhöhen, ohne uns personell oder finanziell zu überfordern.